„Aggressiv, unglücklich, un(ter)versorgt? – Gemeinsam Versorgungslücken schließen!“
Im Arbeitskreis Teilhabe setzen sich Wissenschaftler*innen der Universität zu Köln gemeinsam mit Schulaufsicht, Förderschulleitungen, Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie mit der Frage auseinander, wie Teilhabe, Bildungsgerechtigkeit und Kinderschutz von Kindern und Jugendlichen mit massiver psychischer Belastung gesichert werden können. Der Arbeitskreis konstituierte sich 2023 vor dem Hintergrund der Ergebnisse der PEARL-Studie. Die Ergebnisse aus der Studie PEARL zur psychischen Belastung und Versorgungssituation von Schüler*innen an Förderschulen sind alarmierend.
Sie zeigen deutlich: Wir brauchen neue Wege der Vernetzung der Unterstützungssysteme, um Teilhabe, Bildungsgerechtigkeit und Kinderschutz von Kindern und Jugendlichen mit massiver psychischer Belastung zu sichern. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir über innovative Formen der Vernetzung diskutieren.
Denken Sie mit – zum Wohl der Kinder und Jugendlichen!
Wann:
24.09.2024, 10.30 – 15.00h; Teilnahme nur nach vorheriger Anmeldung möglich
Ort:
Universität zu Köln,
Humanwissenschaftliche Fakultät
Aula 3 in der Gronewaldstraße 2
50931 Köln
Programm
10.30 Uhr Begrüßung Prof. Dr. Thomas Hennemann (Universität zu Köln)
Grußwort Lena Zingsheim-Zobel (Sprecherin Enquete Kommission Chancengleichheit in der Bildung)
Video „Nico“
11.00 Uhr Wissenschaftliche Impulsreferate zum Thema „Aggressiv, unglücklich, un(ter)versorgt?“ Perspektiven der Sonderpädagogik, Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und -psychiatrie
– Prof.in Dr. Charlotte Hanisch (Universität zu Köln)
– Dr. Alexander Golzarandi (Kinder- und Jugendpsychiatrie Uniklinik Köln)
– Prof. Dr. Michael Macsenaere (Institut für Kinder- und Jugendhilfe)
12.00 Uhr – Mittagspause
12.45 Uhr – Good Practice-Beispiele gelungener Kooperationen zwischen den helfenden Systemen (Vorstellung von vier Projekten):
– Prof.in Dr. Tatjana Leidig (Universität Flensburg) und Ulrike Biermann (Förderschulleiterin)
– Simone Feldmann (Leiterin des Bereichs Kinder, Jugendliche und Familie der Stadt Monheim)
– Prof. Dr. Bender (Kinder- und Jugendpsychiatrie Uniklinik Köln)
– Karen Krause (Zentrum für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Ruhr-Universität Bochum)
14.00 Uhr – Kaffeepause
14.30 Uhr – Podiumsdiskussion mit Vertreter*innen aus Politik, Schule, Jugendhilfe und Kinder- & Jugendlichenpsychotherapie
Diskussionsleitung Armin Himmelrath (Journalist, Moderator und Publizist mit Fokus Bildungs- und Wissenschaftspolitik)
Teilnehmende:
Prof. Dr. Thomas Hennemann (Universität zu Köln),
Prof.in Dr. Katinka Beckmann (Hochschule Koblenz),
Christin Siebel (MdL, Vorsitzende Enquete Kommission Chancengleichheit in der Bildung),
Jan Peter Meier (Vorstand der Vereinigung der Schulleitungen NRW),
Beate Mauerer Bonnen (Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Arbeitskreis niederschwellige Versorgung)
Claus Weidinger (Obere Schulaufsicht für Förderschulen und Klinikschulen im Regierungsbezirk Köln)
15.45 Uhr – Abschluss und Ausblick
Kurzinformation zum Projekt PEARL – Psychische Gesundheit von Schüler*innen an Förderschulen
Ausgangslage
Schulische Angebote im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung (FSP EsE) richten sich an Schüler*innen, die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung stark beeinträchtigt sind und ein hohes Ausmaß an emotionalen und/oder Verhaltensproblemen zeigen. In Nordrhein-Westfalen wird mehr als die Hälfte der Schüler*innen mit FSP EsE an einer Förderschule unterrichtet (MSB NRW, 2022). Die Förderschule mit dem FSP EsE erfüllt vor diesem Hintergrund auch im inklusiven Schulsystem eine wichtige Funktion als Schulform für besonders stark belastete Schüler*innen (Ahrbeck, 2014; Bolz & Rieß, 2021). Ein Teil dieser Schüler*innen weist einen intensivpädagogischen Unterstützungsbedarf[1] auf.
Das Projekt PEARL konstituierte sich im Jahr 2018 im Austausch zwischen schulischer Praxis und Universität vor dem Hintergrund der von den Schulleitungen beschriebenen Wahrnehmung einer deutlichen Zunahme massiver aggressiver Impulsdurchbrüche und einer verminderten Passung der bislang verwendeten pädagogischen Maßnahmen. Das Projekt geht den zentralen Fragen nach,
- welche psychischen Auffälligkeiten in welcher Intensität bei Schüler*innen an Förderschulen mit dem FSP EsE vorliegen,
- ob die bislang angebotenen Unterstützungs- und Fördermaßnahmen für diese Zielgruppe geeignet sind und
- durch welche Strategien das bisherige Handlungsrepertoire erweitert werden kann.
Belastbare Erkenntnisse lagen zu diesen Fragestellungen bislang nicht vor.
Eckpunkte des Projekts PEARL im Überblick
Im Projekt PEARL arbeiten fünf Förderschulen und Vertreter*innen der Lehrstühle für Erziehungshilfe und sozial-emotionale Entwicklungsförderung sowie Psychologie und Psychotherapie in Heilpädagogik und Rehabilitation der Universität zu Köln zusammen. Durch den partizipativen Charakter des Projekts werden die Sichtweisen, Erfahrungen und Kompetenzen aller Beteiligten in den Prozess eingebracht, eine breite Akzeptanz und ein hohes Verständnis der gemeinsam entwickelten Vorgehensweisen und Maßnahmen unterstützt sowie die spezifischen Bedingungen im Praxisfeld passgenauer in der Planung, Entwicklung, Implementation und Evaluation von Maßnahmen berücksichtigt. In regelmäßigen Steuergruppentreffen der Schulleitungen und Vertreter*innen der beteiligten wissenschaftlichen Arbeitsgruppen werden in einem interdisziplinären Diskurs Ziele abgestimmt, methodische Vorgehensweisen diskutiert und gemeinsame Entscheidungen getroffen.
Das Projekt PEARL beinhaltet drei Säulen, die in Abb. 1 dargestellt werden.
Abb. 1. Säulen des Projekts PEARL
Ausgewählte Ergebnisse
Säule 1: Beschreibung der Gesamtgruppe der Schüler*innen
In Vollerhebungen in den Schuljahren 2018/19 und 2021/22 mit Hilfe des Fragebogens DISYPS-III (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017) konnte zweifach belegt werden, dass es sich bei den Schüler*innen an der Förderschule mit dem FSP EsE um eine sehr stark belastete Gruppe von Kindern und Jugendlichen handelt (Hanisch et al., 2023; Hennemann et al., 2020). Dies betrifft vor allem die Bereiche ADHS, Störung des Sozialverhaltens (v.a. oppositionelles Problemverhalten und affektive Dysregulation) sowie Autismus-Spektrum-Störungen. Zudem liegen hohe Komorbiditäten vor, d. h. eine hohe Zahl der Schüler*innen weist Mehrfachbelastungen auf, auch in Kombination internaler und externaler Probleme.
Insgesamt betrachtet ist die Förderschulklientel als deutlich stärker belastet als die Risikogruppe in der BELLA- und COPSY-Studie (Arbeitsgruppe Ravens-Sieberer) und die klinische Vergleichsstichprobe einzuschätzen. Gleichzeitig wurde zu beiden Erhebungszeitpunkten eine massive Unterversorgung bzgl. Jugendhilfe und kinderpsychiatrischer/-psychotherapeutischer Hilfen deutlich.
Säule 2: PEARL-QUALI
Einen wichtigen Baustein des Projektes stellt die Entwicklung eines Qualifizierungs- und Begleitkonzepts dar, das die Professionalisierung der Lehrkräfte in der wirksamen Förderung von Schüler*innen mit massiv ausgeprägten externalisierenden Verhaltensproblemen unterstützt. Auf der Basis eines individuellen Bedingungsmodells werden für ein „Zielkind“ konkrete Handlungsstrategien entwickelt und implementiert. Die Konzeption umfasst fünf Fortbildungstage, die durch Coachingangebote, Peer-Coaching, eine Unterrichtshospitation und ein Interview zur affektiven Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung ergänzt werden.
Die Evaluationsergebnisse aus der Pilotierung und der Hauptstudie weisen auf positive Entwicklungen auf Zielkind- und Lehrkraftebene hin: Reduktion von Problemverhalten (z. B. ADHS-Symptome), Verbesserung der Lehrkraft-Schüler*in-Beziehung aus beiden Perspektiven sowie Verbesserung des (schüler*innenspezifischen) Selbstwirksamkeitserlebens der Lehrkräfte. Zudem scheint eine hohe Akzeptanz und Passung des Qualifizierungs- und Begleitkonzepts vorzuliegen. Es können eine hohe Wertschätzung interdisziplinärer Fortbildungs- und Coachingangebote und ein vertiefteres Verständnis des Zielkindes konstatiert werden. Die Auswertungen weisen darauf hin, dass eine enge, kontinuierliche Begleitung bei der Entwicklung des Bedingungsmodells, bei der spezifischen Maßnahmenentwicklung sowie vor allem bei der Implementation erforderlich ist.
Säule 3: Schulentwicklung im Netzwerk der Hilfen
Die beteiligten Schulen setzen Elemente des Case Managements bei gleichzeitiger Unsicherheit hinsichtlich des Auftrages von Lehrkräften um. Interdisziplinäre Unterstützung und Vernetzungsstrukturen mit außerschulischen Partnern werden in Abhängigkeit von den standortspezifischen Bedingungen entwickelt, wobei z. T. sehr herausfordernde Rahmenbedingungen mit ungesicherter Verbindlichkeit und knappen Ressourcen im System zu konstatieren sind.
Projektbezogene Publikationen
Leidig, T., Hanisch, C., Vögele, U., Niemeier, É., Gerlach, S. & Hennemann, T. (2021). Professionalisierung im Kontext externalisierender Verhaltensprobleme – Entwicklung eines Qualifizierungs- und Begleitkonzepts für Lehrkräfte an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. Wissenschaftliche Jahreszeitschrift Emotionale und Soziale Entwicklung (ESE) in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen, 3, 88–98.
[1] In NRW kann gemäß § 15 Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung (AO-SF) ein deutlich erhöhter Unterstützungsbedarf im FSP EsE ergänzend geltend gemacht werden. Die Bestimmung der Schüler*innengruppe erfolgt dabei über das Kriterium des „erheblich über das übliche Maß“ hinausgehenden sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs. Dieser ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Schwerbehinderung nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (§ 15 Abs. 2 AO-SF).